Die besondere
Rolle der Angehörigen
von Menschen mit
seltenen Erkrankungen Prof. Dr. Oliver Semler und Dr. Andreas Jerrentrupp im Gespräch

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Porträt Prof. Dr. Oliver Semler, Leiter des Zentrums für seltene Skeletterkrankungen im Kindes- und Jugendalter der Uniklinik Köln
Porträt Dr. Andreas Jerrentrup, Leitender Oberarzt des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Philipps-Universität Marburg

Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer seltenen Erkrankung. In Europa gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das eine spezifische Krankheitsbild aufweisen. Weltweit sind etwa 8.000 sogenannte „Orphan Diseases“ bekannt. Rund 80 Prozent haben genetische Ursachen. Viele von ihnen sind lebensbedrohlich und verlaufen chronisch.1

Nach wie vor haben unterstützende und pflegende Angehörige einen erheblichen Anteil an der letztendlichen Diagnosestellung und am Therapieerfolg – und fangen damit oft die fehlenden Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen auf.

Sie sind unentbehrlich – und werden viel zu selten beachtet!

1https://www.achse-online.de/de/die_achse/Seltene-Erkrankungen.php. Letzter Zugriff am 24.11.22

Semler:
Viele bringen sich sehr ein und versuchen, den Erkrankten so gut wie möglich zu unterstützen. Ihre eigenen Belastungen und Bedürfnisse thematisieren sie dabei fast nie. Dennoch spürt man, wie sehr sie sich verausgaben und wie sie häufig über ihre Leistungsfähigkeit hinausgehen. Ihre objektivere Perspektive von außen ordnet eine Situation oftmals realistischer ein, als die Betroffenen das können. Und sie schlagen auch immer wieder die Brücke zurück ins „normale Leben“.

Jerrentrup:
Und das ist ja meistens über lange Zeit von Ängsten und Unsicherheiten geprägt, da es bei seltenen Erkrankungen zum Teil zehn Jahre und länger dauert, bis die korrekte Diagnose endlich feststeht. In dieser Phase ist die Unterstützung der Angehörigen ausgesprochen wichtig. Denn die Betroffenen haben mit ihnen Menschen, die ihnen nahestehen und mit denen sie die psychische Last, die der lange diagnostische Weg mit sich bringt, teilen können.

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In Ihrer Praxis haben Sie tagtäglich auch mit den Angehörigen von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu tun. Wie erleben Sie sie? Wie wichtig sind sie für die Erkrankten?

Wie beurteilen Sie die Bedeutung der Angehörigen für die richtige Diagnosestellung und für den Therapieerfolg?

Jerrentrup:
Gerade weil die Diagnose von seltenen Erkrankungen in den seltensten Fällen klar auf der Hand liegt, sind wir als Ärzte in dieser Phase dankbar für jeden Hinweis, der uns bei unserer „Detektivarbeit“ ein Stück näher an die Lösung heranbringt. Von den Angehörigen erfahren wir oft Aspekte, die der Patient selbst möglicherweise noch gar nicht wahrgenommen hat oder nicht erwähnt. Oft sind es gerade diese Beobachtungen, die uns diagnostisch dann auf die richtige Spur bringen.

Semler:
Auch für die Therapie spielen die Angehörigen eine entscheidende Rolle. Dank ihrer emotionalen Unterstützung kann sie oftmals konsequenter und präziser angewendet werden. Und für die Beurteilung des Behandlungserfolgs ist ihre Perspektive ebenso wichtig. Denn sie sind eine weitere Informationsquelle zum Stand der Erkrankung und zum Therapieverlauf.

Außerdem gilt „Vier Ohren hören mehr als zwei – und zwei Gehirne behalten mehr als eins“. Die Patienten sind meistens sehr aufgeregt bei Arztterminen und vergessen, Fragen zu stellen. Das übernehmen dann oftmals die Angehörigen. Kommen Patienten mit ihren Angehörigen in die Sprechstunde, verläuft der Termin i. d. R. strukturierter.

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Welche Rolle spielen die Angehörigen für das Arzt-Patienten-Verhältnis?

Semler:
Angehörige vermitteln zwischen Arzt und Patient. Grundsätzlich sind sie weniger emotional und hinterfragen Arztempfehlungen auch mal. Außerdem beurteilen sie die Umsetzbarkeit von Therapien im Alltag im Allgemeinen besser. Und sie sprechen Dinge an, die die Betroffenen möglicherweise nicht so nachhaltig thematisieren würden – etwa das Einfordern weiterer Termine, weiterer Diagnostik oder weiterer Therapien.

Jerrentrup:
Die Angehörigen von Menschen mit seltenen Erkrankungen erweitern das Arzt-Patienten-Verhältnis. In den allermeisten Fällen sind sie ausgesprochen gut informiert. Diese gute Informiertheit ist ein sehr wichtiger Baustein für den Diagnostik- und Therapieerfolg.

Jerrentrup:
Da gibt es verschiedene Ebenen: Zum einen ist da natürlich die oft sehr lange Dauer bis zur korrekten Diagnose. Zum anderen ist die Betreuung von Patienten mit seltenen Erkrankungen teilweise ausgesprochen zeitintensiv. Das gilt genauso für die Eigenrecherche und die notwendige Einarbeitung in eine Krankheit, über die es häufig nur spärliche bzw. schwer zugängliche Informationen gibt. Und auch die Tatsache, dass für viele seltene Erkrankungen keine kausalen Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen, ist eine Belastung, mit der man psychisch genauso klarkommen muss – ebenso wie damit, dass sich die Forschung nach wie vor nur wenig mit seltenen Erkrankungen beschäftigt.

Semler:
Ich erlebe auch immer wieder das soziale Umfeld als einen Faktor, der zusätzlichen Druck aufbaut. Häufig können Verwandte, Freunde oder Kollegen die Belastungen, die mit seltenen Erkrankungen einher gehen, nicht gut einschätzen – was dann oft zu Unverständnis aus Unwissen führt.

Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen die Angehörigen von Menschen mit seltenen Erkrankungen?

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