„SOLANGE DER KRUG DER EIGENEN
KRÄFTE VOLL IST, KÖNNEN
PFLEGENDE ANGEHÖRIGE AUCH
ANDEREN DAVON EINSCHENKEN.“ DR. TATJANA REICHHART IM INTERVIEW

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Die schwere Krankheit eines Familienangehörigen, wie zum Beispiel Krebs, Schlaganfall oder auch eine seltene Erkrankung, bedeutet auch für Familie und Freunde einen herben Einschnitt in das gewohnte Leben. Abläufe und Rollen ändern sich. Es kann schwierig werden, ausreichend auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Wie es gelingen kann, die eigene mentale und physische Widerstandskraft zu erhalten und zu stärken, erklärt Dr. Tatjana Reichhart, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Dr. Tatjana Reichhart ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach zehnjähriger klinischer und wissenschaftlicher Tätigkeit an der Universitätsklinik der Technischen Universität München (TUM) gründete sie das Coaching- und Seminarcafé Kitchen2Soul und machte sich als Coach und Trainerin selbständig. Das Themengebiet „psychische Gesundheit“ und die Notwendigkeit einer fundierten Prävention liegen ihr besonders am Herzen. Sie hält Workshops und Vorträge und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema „Selbstfürsorge“. Im Jahr 2019 ist ihr Buch „Das Prinzip Selbstfürsorge“ im Kösel Verlag erschienen.

Frau Dr. Reichhart, einen Angehörigen zu pflegen oder zu unterstützen, ist eine verantwortungsvolle Herausforderung. Wie können pflegende oder unterstützende Angehörige vermeiden, dass sie an einen Punkt kommen, wo sie mit ihren Kräften völlig am Ende sind?

Die Gefahr besteht, weil es ja neben der organisatorischen und körperlichen Anstrengung auch immer eine psychische Belastung gibt. Dass ein mir nahestehender Mensch eine schwere chronische Erkrankung hat, ist eine belastende Tatsache. Sehr wichtig ist es, darauf zu achten, dass in diesen Situationen der eigene Energiehaushalt aufgeladen bleibt.

Wir brauchen selbst Energie, um Energie geben zu können. Das ist wie eine „Seelenbuchhaltung“ zwischen „Soll“ und „Haben“: Was kostet mich Energie und was gibt mir Energie? Wenn langfristig die Waage schief hängt, kann es passieren, dass ich selbst auch keine Kraft mehr habe und krank werde. Da ist die Frage, wie Balance hergestellt und Puffer aufgebaut werden können.

Sie haben das Buch „Das Prinzip Selbstfürsorge“ geschrieben. Was bedeutet Selbstfürsorge für Angehörige von schwer Erkrankten?

Selbstfürsorge ist die Übernahme von Verantwortung für sich selbst. Manche flüchten sich hinter Sätze wie: „Die anderen hätten sehen müssen, dass ich nicht mehr kann“ oder „Niemand hilft mir, ich bin ganz allein in der Situation“. Es liegt aber in meiner eigenen Verantwortung, nach Unterstützung zu fragen. Dazu gehört, auch mal „Nein“ zu sagen, andere vielleicht sogar zu enttäuschen. Damit sorge ich dafür, dass mein Energiehaushalt zumindest einigermaßen im Gleichgewicht bleiben kann.

Selbstfürsorge ist die Mitte zwischen zwei Extremen: Der absoluten Aufopferung bis zum Ausbrennen auf der einen und auf der anderen Seite der Egoismus. Solange der Krug der eigenen Kräfte voll ist, kann ich auch anderen davon einschenken. Es ist nämlich schädlich, nur egoistisch zu leben. Wir Menschen sind soziale Wesen und bekommen positive Botenstoff-Ausschüttung – also Glücksgefühle – wenn wir helfen. Soziales Miteinander ist ein Wohlfühl-Faktor.

Jeder muss für sich ein gesundes Maß finden, anderen Menschen zu helfen. Das heißt, ich muss reflektieren und achtsam sein. Das ist die Grundvoraussetzung: zu spüren, was mir guttut, was ich brauche und was kräftezehrend ist. Im zweiten Schritt muss man lernen, dafür einzustehen und das auch wirklich umzusetzen. Darin liegt die Entscheidung: Ja, ich bin genauso wichtig wie jeder andere Mensch.

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Um Herausforderungen wie die Pflege oder das Unterstützen eines kranken Angehörigen meistern zu können, braucht es aus Ihrer Sicht aber nicht nur Selbstfürsorge, sondern auch Resilienz. Was meinen Sie damit?

Resilienz ist die seelische Widerstandsfähigkeit, dass wir trotz Herausforderungen und Stressoren nicht krank werden – insbesondere psychisch krank. Erschütternde Erlebnisse, wie ein schwerer Krankheitsfall in der Familie, gehen nicht spurlos an uns vorbei. Auch widerstandsfähige Menschen spüren diese Erschütterung. Resilienz bedeutet, dass ich mich nicht in die Opferrolle begebe, nur das Negative sehe und im Bett liegenbleibe. Ich nehme stattdessen die Krise an und finde heraus, was ich selbst tun und steuern kann, um noch etwas zu bewirken. Und wenn das nur mal eine Stunde Sport ist oder irgendetwas anderes, das mir guttut. Da ist die Verbindung zur Selbstfürsorge: Ich kann nur resilient bleiben, wenn ich gut für mich sorge. Wenn ich schon vor der Herausforderung keine Energie mehr hatte, dann habe ich einer Krise gar nichts entgegenzusetzen. Nur, wenn ich in Balance bin, kann ich die Stürme im Leben – und die Erkrankung eines Angehörigen ist so ein Sturm – gut überstehen.

Dafür muss ich Resilienz stärken und aufbauen. Etwa 50 Prozent dieser Kraft sind genetisch vorgegeben und 50 Prozent werden durch Erfahrungen erworben. Ich kann also das Potential, mit dem ich auf die Welt gekommen bin, im Laufe meines Lebens verändern – auch noch als älterer Mensch. 

Dabei ist Optimismus enorm wichtig. Damit meine ich nicht die rosarote Brille. Optimismus ist, eine Krise anzuerkennen, aber auf der anderen Seite auch noch immer das Gute zu sehen. Es gibt immer Dinge, die gut sind. Die darf ich nicht aus den Augen verlieren. Menschen mit einer schweren Depression können das nicht mehr sehen. Sie glauben nicht an eine Besserung, das ist Teil der Krankheit. Aber solange ich gesund bin – auch wenn ich belastet bin – kann ich die Perspektive wechseln und das Gute sehen. 

Diese Sichtweise können wir üben: Man kann sich abends aktiv überlegen, was alles trotz Herausforderungen gut läuft, worüber man sich freuen kann. Das „trotzdem“ ist wichtig. So lenke ich meine Gedanken in die richtige Richtung.

Viele Menschen, die einen schwerkranken Angehörigen unterstützen, denken nur an den anderen und nicht an sich selbst, weil sie glauben, sonst wären sie egoistisch. Wie kann bei ihnen ein Umdenken gelingen?

Das ist ein wichtiger Punkt: Auch für den Patienten oder Pflegebedürftigen ist es wichtig, dass der Angehörige auf sich achtet. Denn wenn der pflegende oder unterstützende Angehörige ständig an seine Grenzen geht, wirkt sich das oft auch auf das Verhalten gegenüber dem Erkrankten aus. Es entsteht Aggressionspotenzial und kann vorkommen, dass die Angehörigen nicht mehr gelassen und freundlich mit dem Erkrankten umgehen. 

Das ist normal, ich darf auch mal wütend sein. Aber dann muss ich verstehen, dass es die eigene Entscheidung ist, wie ich mit der Situation umgehe. Das Mindset ist wichtig, um wieder positiv mit dem anderen in Kontakt zu treten.

Eigentlich ist es egoistischer, sich aufzuopfern, weil ich dadurch gereizter werde. Wenn man zum Beispiel lange nichts gegessen hat, dann wird man gereizt und lässt das an anderen aus. Besser ist es, sich die Zeit zum Essen zu nehmen, danach hat man wieder mehr Kraft und ist besser zu den anderen.

Bei all den Anforderungen durch Familie, Beruf und Pflege ist es für Angehörige oft schwierig, sich im Alltag Freiräume zu verschaffen und auf sich selbst zu achten. Sie empfehlen, sich Pippi Langstrumpf als Vorbild zu nehmen. Was meinen Sie konkret damit?

Pippi Langstrumpf ist mein persönliches Bild dafür – jeder kann sich da sein eigenes suchen. So ein Bild kann eine Alltagsstütze sein, um sich an Selbstfürsorge zu erinnern. Am Anfang gehen wir meist den Weg, den wir immer gegangen sind. Das ist die Gewohnheit, die Autobahn im Gehirn – „Ja“ sagen, obwohl es einem eigentlich zu viel ist. Um einen neuen Weg einschlagen zu können, kann einem ein Symbol wie ein „Verkehrszeichen“ helfen – und bei mir ist es Pippi Langstrumpf.

Ich habe das Bild von ihr als Postkarte am Schreibtisch. Da schaue ich drauf und kann mich anders entscheiden, als es mein Reflex sonst vorgeben würde. Es ist meine Erinnerung, öfter mal „Nein“ zu sagen. Mein Unterbewusstsein wird dadurch getriggert, das nennt man auch „Priming“. Durch das Bild bekomme ich sofort eine Assoziation und verhalte mich auf eine bestimmte Art und Weise. So können wir uns selbst darin trainieren, Verhaltensweisen zu ändern.

Und warum ausgerechnet Pippi Langstrumpf? Weil sie mutig ist und sich nicht von Obrigkeiten einschüchtern lässt. Sie macht ihr Ding, lebt ihren Stil. Natürlich kann man nicht immer sein wie Pippi. Aber sich manchmal darauf zu besinnen, dass man Entscheidungen treffen und sich oft mehr erlauben kann als man denkt, ist wichtig. Dann merkt man, dass es funktioniert und gar nicht so schwierig ist. 

Es ist ok, sich mal einen freien Tag zu nehmen und die Aufgaben für den Angehörigen an andere abzugeben. Am Anfang habe ich vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber das ändert sich, wenn ich merke, es funktioniert und mir geht es danach besser.

Wie verändern sich Rollen in Familien und Beziehungen, wenn einer zum Patienten und einer zum pflegenden Angehörigen wird?

Es kommt darauf an, wie es vorher war. In Eltern-Kind-Beziehungen passiert oft eine Umkehrung der Rollen, wenn die Eltern krank werden. Die haben sich sonst immer um alles gekümmert, jetzt ist es plötzlich massiv anders. Das Kind muss sich in der Rolle erstmal finden, die Eltern schützen und sich um sie kümmern.

Das erkrankte Elternteil natürlich auch – plötzlich ist es abhängig von anderen und kann einfachste Dinge nicht mehr allein bewältigen. Die Veränderung vom Handelnden zum Hilfsbedürftigen erschüttert erstmal. Und dann müssen alle Beteiligten gucken, wie sie das System neu sortieren. Das passiert am besten, wenn man über die Herausforderungen redet. Man kann ruhig sagen „Das fällt mir jetzt schwer!“ oder „Ich kann mir vorstellen, dass es gerade nicht einfach für dich sein muss, dass du von mir versorgt wirst.“ Es ist extrem wichtig, dass man über solche Situationen spricht, Gefühle ernst nimmt und empathisch ist. 

Zudem ist es ratsam, zu fragen, wie viel Hilfe der Erkrankte oder Pflegebedürftige überhaupt möchte. Da muss man aufpassen, dass keine Übergriffigkeit passiert. Der Bedürftige ist immer noch ein erwachsener Mensch, der Würde und Selbstbestimmung hat und eigene Entscheidungen treffen kann und muss.

Solange jemand die Tragweite seiner Entscheidungen versteht, kann er sagen, wie etwas laufen soll und da muss der Angehörige flexibel bleiben und das dann auch so machen. Es ist wichtig, immer im Gespräch zu bleiben und nachzufragen. Das gelingt besser, wenn ich weiß, was meine Bedürfnisse sind und das auch sagen kann. Auf einer sachlichen höflichen Ebene kann so ein Weg für alle gefunden werden, den man zusammen gehen kann.

Haben Sie denn Tipps, wo man sich für diese Gespräche oder diesen Prozess hin zu einer guten Kommunikation zwischen Erkranktem und Angehörigem Hilfe oder Begleitung holen kann?

Es gibt sozialpsychiatrische oder auch sozialpädagogische Dienste, bei denen man in Streitsituationen nach Mediationsangeboten fragen kann. Man kann auch einen systemischen Coach zu Hilfe holen, das ist allerdings mit Kosten verbunden. Die systemische Beratung ist eine anerkannte Methode. Da könnte man sich ein paar Stunden bei einem externen Berater buchen. Der hilft der ganzen Familie, sich neu zu sortieren und ins Gespräch zu kommen. Auch Selbsthilfegruppen vor Ort sind eine gute Anlaufstelle.

Das Wichtigste ist, dass man nicht allein durch solche Veränderungsprozesse gehen muss. Es kann helfen, wenn jemand von außen den Rahmen zur Verfügung stellt, damit alle gleichermaßen zu Wort kommen. Dabei kann geklärt werden, was jeder Einzelne gut findet, nicht gut findet und was er sich für die Zukunft wünscht.

Welche Art von Angehörigen ist besonders von Überforderung betroffen und wie kann man die Belastung innerhalb der Familie besser verteilen?

Oft sind Menschen von Überforderung betroffen, die ein Helfersyndrom haben. Es gibt Menschen, die einen großen Gewinn daraus ziehen, für andere da zu sein. Es tut uns grundsätzlich gut, uns um andere zu kümmern, aber es darf nicht zu Aufopferung führen. Wenn man das im Coaching oder in der Therapie bespricht, kommt oft raus, dass diese Menschen nicht loslassen können. Die Pflege eines anderen wird zur eigenen Daseinsberechtigung, zum Lebensinhalt.

Manche Menschen kümmern sich zuerst um die eigenen Kinder und sobald die aus dem Haus sind um die Eltern. Die Pflege der Eltern ersetzt also die Versorgung der Kinder. Da kommen oft diese Glaubenssätze zum Einsatz, dass an erster Stelle stets die anderen kommen. Manchmal spielt auch ein christliches Grundbild mit, das die Aufopferung für andere fördert: „Sei gut zu den anderen.“

Es sind also Menschen besonders gefährdet von Überforderung, die sich sehr aufopfernd kümmern möchten, und solche, die Perfektionisten sind und schlecht loslassen oder abgeben können.

Nur wer gut für sich selbst sorgt, kann auch für andere sorgen. Dazu muss jede und jeder aber wissen, was die eigenen Bedürfnisse sind. Wie finde ich heraus, was mir guttut?

Das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse kann man trainieren. Man kann zum Beispiel sich zweimal am Tag hinsetzen und fragen: Wie geht es mir? Was brauche ich, damit es mir besser geht? Dann deute ich die Zeichen, die mein Körper mir gibt.

Beispiel: Ich bin gereizt und müde. Ich glaube, Sport würde mir guttun oder etwas Gutes zu Essen. Dann kümmere ich mich darum.

Bedürfnisse leiten sich aus Gefühlen und dem körperlichen Befinden ab. Wenn also alle meine Bedürfnisse erfüllt sind, fühle ich mich ausgeglichen und zufrieden und bedürfnislos gut. Wenn ich mich nicht so gut fühle, weist das auf unbefriedigte Bedürfnisse hin. Wenn ich etwas mehr darauf höre, was mein Körper und mein Geist brauchen, dann kann ich mich selbst entschlüsseln.