„KEIN AUSREICHENDES ZEITBUDGET
FÜR DIE REHABILITATIVE
BEHANDLUNG UND BERATUNG“ PROF. DR. JÖRG WISSEL IM INTERVIEW

zurück zur suche
dr-jogr

Prof. Dr. Jörg Wissel ist Neurologe und Rehabilitationsmediziner. Seit 2012 leitet er die Abteilung Neurologische Rehabilitation und Physikalische Therapie des Vivantes Krankenhauses Spandau in Berlin und führt eine Praxis für Neurologie in Berlin-Schöneberg. Er ist neben seiner Dozententätigkeit an der Universität Potsdam u. a. auch Mitglied der Berliner Schlaganfall-Allianz und hat bei der Errichtung des sog. „Schlaganfall-Stützpunktes“ zur Beratung von Patienten und Angehörigen mitgewirkt. Prof. Wissel ist auch international ein renommierter Experte und Autor von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die die Aufklärung in dem Gebiet maßgeblich vorantreiben.

arztgespraech-content-image

Als Neurologe sehen Sie täglich Schlaganfall-Patienten mit Folgeerkrankungen. Wie oft sind Angehörige bei den Terminen dabei?

Ein Großteil der Patienten, die zu Terminen zu uns kommen, werden von Angehörigen begleitet: fast 75 Prozent, schätze ich. Das liegt zum einen daran, dass die Betroffenen aufgrund von Bewegungs- oder Orientierungsstörungen nicht allein zur Praxis oder zur Klinik finden würden, aber auch daran, dass ein Angehöriger die Kommunikation mit uns Ärzten wesentlich für den Betroffenen erleichtern kann.

Welchen Anteil leisten Angehörige bei der Betreuung von Schwerkranken – insbesondere auch Angehörige von Betroffenen nach Schlaganfall?

Angehörige haben einen starken Einfluss auf die sozialen und emotionalen Faktoren, die neben den rein körperlichen Behinderungen, wie eine Steifigkeit oder Spastizität der betroffenen Extremitäten, wesentlich für die Lebensqualität der Patienten sind. Zudem zeigen Belege, dass die Behandlungspläne im Sinne von therapiebedingten Maßnahmen mithilfe von Angehörigen viel besser umgesetzt und eingehalten werden können: Angehörige sind meist kontinuierlich bei den Betroffenen, können zuhören, beobachten und eingreifen. Sie sorgen nicht nur dafür, dass die Betroffenen beispielsweise ihre Medikamente regelmäßig einnehmen, sondern auch für regelmäßige Bewegung, die richtige Ernährung, dass Termine z. B. beim Physiotherapeuten eingehalten werden. Das regelmäßige Lagern und Verhindern von Entlagern ist häufig bei schwerstbehinderten Menschen wichtig. Das kann ein Pflegedienst, der vielleicht dreimal täglich vorbeikommt und nur kurz da ist, gar nicht leisten. Studien zeigen, dass Angehörige durch ihr Engagement und Handeln einen signifikant positiven Einfluss auf die Lebensqualität des Betroffenen haben.

Sie sehen täglich viele Patienten, die unter einer behindernden spastischen Bewegungsstörung leiden. Was bedeutet diese Diagnose für (pflegende) Angehörige?

Bei einer behindernden spastischen Bewegungsstörung können zwei wesentliche Faktoren eine Herausforderung für Angehörige darstellen:

Die durch Steifigkeit eingeschränkte oder teilweise unmögliche Bewegung einer betroffenen Extremität aufgrund einer durch die Spastizität verursachten Bewegungshemmung, und der zweite Faktor sind Schmerzen durch oder bei spastischer Bewegungsstörung.

Durch eine Spastizität versteifte Gelenke führen dazu, dass das Anziehen des Patienten oder die Reinigung – von Handinnenflächen oder der Achselhöhle etwa – körperlich sehr anstrengend werden können und Schmerzen verursachen. Das ist dann ein besonderes Problem, wenn notwendige Pflegemaßnahmen dem Betroffenen große Schmerzen bereiten und der pflegende Angehörige dies aber tun muss, um ausreichend zu pflegen.

Damit können viele Angehörige nur schwer umgehen. Beide Faktoren sind sowohl für den Angehörigen, aber natürlich auch für den Betroffenen eine Tortur – körperlich wie emotional.

STEHT IHNEN AMBULANT ODER STATIONÄR PRO PATIENT AUSREICHEND ZEIT ZUR VERFÜGUNG FÜR EINE VOLLUMFÄNGLICHE BEHANDLUNG UND HABEN SIE AUCH ZEIT FÜR DIE BERATUNG UND AUFKLÄRUNG DER ANGEHÖRIGEN?

Stationär haben wir, zusammen mit dem multiprofessionellen NeuroReha-Team, ausreichend Zeit für die Patienten, aber auch für Fragen und eine Beratung der Angehörigen. Hier bieten wir spezielle Angehörigenberatungen an. Auch sogenannte Pflegetage – zu denen die Angehörigen eingeladen werden, um Pflegehandlungen zu erlernen – werden in meiner Klinik angeboten.

Ein Problem besteht aber im ambulanten kassenärztlichen Versorgungsalltag einer deutschen Regelversorgung, die uns aktuell kein ausreichendes Zeitbudget für die rehabilitative Behandlung und Beratung bei schweren Behinderungen durch Schlaganfall ermöglicht. Hier kann für die Erstvorstellung etwas mehr Zeit eingeplant werden, aber bei den Folgeterminen stehen bestimmte Handlungen gemäß des notwendigen Therapieplans häufig im Vordergrund der ärztlichen Kontakte. Im kassenärztlichen Bereich ist es so tatsächlich eher weniger möglich, belastete Angehörige zu beraten oder gar mitzubetreuen.

Wenn wir in meiner kassenärztlichen Praxis merken, dass der Betroffene, aber auch der Angehörige, mehr und auch psychotherapeutische Unterstützung benötigt, empfehlen wir, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Wir bieten diese begleitende Psychotherapie aus diesem Grund in unserer Gemeinschaftspraxis an. Diese Leistung kann allerdings nur abgerechnet werden, wenn konkrete Diagnosen mit einer Notwendigkeit einer Diagnosebestätigung oder Behandlungsnotwendigkeit im Raum stehen wie „Akute Belastungsreaktion bei psychosozialer Belastungssituation“ oder „Anpassungsstörung mit depressiver Auslenkung“. Eine Beratung durch eine erfahrene Therapeutin wirkt dann manchmal Wunder, aber auch die kann keine Sozialarbeitertätigkeit in Beratung und Weichenstellungen ersetzen.

Das Gesundheitssystem sieht vor, dass die Nachsorge von Schlaganfall-Patienten vom Hausarzt, unterstützt durch den Facharzt, organisiert wird. Das Themenfeld und der Bedarf sind allerdings sehr groß, so dass der Allgemeinmediziner diese Leistungen ohne Hilfen nur selten alleine abdecken kann. Aus dieser Versorgungslücke entstand ehemals die Idee zum Schlaganfall-Stützpunkt in Berlin Mitte, denn Angehörige stehen nur dann im Fokus, wenn sie selbst erkranken.
Es gibt z. B. einen großen Bedarf bei der Beantwortung von sozialmedizinischen Fragen.

Die Berliner Schlaganfall-Hilfe bietet hierfür den Schlaganfall-Stützpunkt, ein Angebot, was nur selten zu finden ist: Hier stehen zwei Sozialarbeiterinnen zur Verfügung, die zu Themen wie Anträge für Pflegegeld, Pflegestufe und mehr Hilfen im ambulanten Bereich fundierte Auskünfte anbieten. Bei solchen Themen gibt es insgesamt einen sehr großen Bedarf, der aktuell nicht ausreichend durch die versorgenden Ärzte im zeitlichen Regelversorgungskorsett gedeckt werden kann. Ich glaube, dass wir hier im deutschen System eine Informations- und Versorgungslücke finden würden, wenn genau hingeschaut werden würde.

Auch Patientenselbsthilfegruppen und Stiftungen – wie die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe – bieten hier einen positiven Beitrag rund um Betroffenen- und Angehörigeninformation, allerdings sind diese nicht in die Versorgungsrealität einbezogen und nicht immer vor Ort zu erreichen.

Was ist nötig, damit solche Hilfen auch für Angehörige flächendeckend und zu weniger schwierigen Voraussetzungen angeboten werden können?

In unserem Gesundheitssystem steht immer der akut oder chronisch Erkrankte oder der Patient mit Aktivitätsstörungen im Fokus; so muss es auch sein, um eine angemessene akute, rehabilitative und ambulante, diagnosegerechte Versorgung zu gewährleisten.

Wenn wir mit Angehörigen sprechen, geht es also meist um den betroffenen Patienten, vielleicht um Beobachtungen, die der Angehörige macht und die den weiteren Therapieverlauf durch die Information und die Hilfe des Angehörigen günstig beeinflussen können.

Es wäre allerdings auch gut, wenn wir pflegenden Angehörigen früh zeigen würden, wie sie die Herausforderungen des täglichen, sozialen Lebens mit einem durch Schlaganfall beeinträchtigten, behinderten Angehörigen besser bewältigen können, wie z. B. ein steifer/schwerer Körperteil des behinderten Angehörigen am besten angehoben werden kann, ohne dabei den Rücken zu stark zu belasten. Der Angehörige selbst steht aber nicht oder nur selten in diesem Sinne im Mittelpunkt meiner ärztlichen Tätigkeit.

Um dies innerhalb des existierenden Gesundheits- und Versorgungssystems zu ändern, muss der hohe Stellenwert von Angehörigen, die pflegen oder unterstützen, besser beschrieben und kommuniziert werden.

Formal geht es darum, dass das Gesundheitssystem uns Ärzten oder auch Kollegen aus dem Sozialwesen mehr definierte Zeit für die Beratung und die Beschäftigung mit berechtigten Bedürfnisse von Angehörigen einräumt. Es reicht nicht aus, den Angehörigen zuzurufen: „Teilen Sie sich Ihre Kräfte und Ressourcen ein, Sie müssen wahrscheinlich noch lange durchhalten!“